1995 war ich im Opernhaus La Fenice. Es sollten über 20 Jahre vergehen, bevor ich 2017 wieder nach Venedig fuhr. Kann ein Ort, der berühmt dafür ist, daß er aussieht wie in längst vergangen Zeiten, sich verändern? Ja, unglücklicher Weise kann er das. Venedig ist einer der schönsten, beeindruckendensten, reichhaltigsten und vielschichtigsten Plätze, die ich je gesehen habe. Es ist eine Wiege der europäischen Kultur und Wirtschaft, in dieser Hinsicht nur vergleichbar mit Florenz. In Venedig muß man verloren gehen, durch die engen verwinkelten Straßen spazieren, die einzigartige Atmosphäre erleben und die faszinierenden Gebäude, wo jeder Stein Geschichte verbreitet, bewundern. Seltsamer Weise machen das die wenigsten Besucher. Wann immer ich erwähnte, daß wir vier Tage bleiben würden, waren die Leute höchst erstaunt. Es scheint, die durchschnittliche Verweildauer in Venedig beträgt vier Stunden, nicht Tage. Keine Ahnung, was man in ein paar Stunden in Venedig wirklich "sehen" kann.
Eines Tages bogen wir bei Fondamente Nove um die falsche Ecke und standen plötzlich auf einem Kirchenplatz. Wir setzen uns in ein nettes Café, sahen wie Kinder fußballspielten, Nachbarn einander zufällig auf einen Plausch trafen, Eltern mit Kinderwägen auf den gegenüberstehenden Bänken eine Pause einlegten und genossen einfach die Stadt. In diesem Moment beneidete ich die Venezianer: hier zu wohnen, muß herrlich sein. Diese Ansicht revidierte ich sofort, als ich am nächsten Tag an der Rialobrücke ankam. Eine Geburtsstätte der Weltwirtschaft ist zu einer vollgestopften Ramschmeile verkommen! Früher mußte man in Venedig höchstens Angst haben, in einen Kanal zu fallen. Geht man heute von Rialto nach San Marco, läuft man ständig Gefahr von einem Handy oder einem Selfiestick attackiert zu werden. Wieso haben namhafte Stellen diese Dinger eigentlich noch nicht als tödliche Waffe klassifiziert? Wer die Selfiesticks überlebt, kann damit rechnen zerquetscht oder zertrampelt zu werden. Ich habe dort keinen Italiener getroffen, aber unzählige Touristen, die irgendwie ferngesteuert wirkten. Wie Lemminge marschieren sie in Gruppen ohne Rücksicht auf ihre Umgebung oder ihre Mitmenschen. Sobald sie stehenbleiben, wird es sogar schlimmer. Egal auf welche Weise man versucht an ihnen vorbeizukommen, sie bewegen sich keinen Millimeter, da sie alle an etwas leiden, was ich das Luther-Syndrom nenne: "Hier steh ich, ich kann nicht anders!" (Ich weiß, Luther hat das nie gesagt.) Weitaus schockierend war für mich die Ähnlichkeit mit einer anderen historischen Person. Wie Christoph Columbus hatte die meisten dieser Leute keine Ahnung wohin sie gingen, als sie dort ankamen, hatten sie keine Ahnung, wo sie waren und als sie zurückkamen, hatten sie keine Ahnung, wo sie gewesen waren. War das im Falle von Columbus durchaus entschuldbar, kann ich keine Entschuldigung für das sture und ignorante Verhalten mancher Touristen finden. 2019 hörte ich tatsächlich wie jemand fragte, welche "Ponte" er nun im Fußgängernavi auswählen solle: Ponte di Rialto oder Ponte vecchio!!!
Venedig ist weder ein Freilichtmuseum noch ein Renaissance Disneyland. Es ist eine Stadt, deren Einwohner mit vielen ernsthaften Problemen zu kämpfen haben. Ja, jeder Tourist, mich selbst eingeschlossen, ist Teil von wenigstens ein paar dieser Schwierigkeiten. Dies bedenkend sollte man sich als guter Gast erweisen, was bedeutet, die Probleme zu verringern und nicht zu vergrößern. Natürlich könnten wir alle daheim bleiben, damit 55.000 Venezianer ihre Heimatstadt einmal in Ruhe genießen können. Vielleicht werden es dann auch wieder ein paar Einwohner mehr. Letzen Endes scheint das keine gute Idee zu sein. Es liegt mir fern, dazu aufzurufen, Leute zu "bestrafen", die ihren Lebensunterhalt im Tourismus verdienen. Noch möchte ich mich bestrafen, indem ich nicht mehr an diesen grandiosen Ort reise. Die höchst empfehlenswerte Website Venezia Autentica ist nicht nur sehr informativ, sondern bietet darüber hinaus viele Tips, wie man als Tourist zum Wohlergehen der Stadt und der Venezianer beitragen kann. Ich werde also wieder nach Venedig fahren, damit ich noch mehr entdecken und die Plätze genießen kann, wo man Leute weit ab von herumtrampelnden, uninteressierten Selfieverrückten trifft. Venedig und seine Einwohner haben so viel zu bieten und sind bereit, es mit den Besuchern der Stadt zu teilen. Dafür dürfen sie zu Recht Zeit, Interesse und Respekt erwarten.