Torcello – Heilige Ruhe

Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert befand sich das wohl bedeutendste Zentrum der nordadriatischen Lagune auf Torcello. Es war ein Bischofssitz mit florierenden Handelshäusern und Handwerksbetrieben, der ca. 2.500 bis 3.000 Einwohner zählte. Ab dem 14. Jahrhundert ließen geografische wie wirtschaftliche Veränderungen die Fischer nach Burano, die Handwerker nach Murano und die Händler nach Venedig abwandern. Torcello geriet in Vergessenheit. Mit 0,44km² zählt es zu den größeren Inseln der Venezianischen Lagune. (Genau genommen ist es ein Archipel, weil selbst Torcello aus mehreren Inseln besteht.) Es erinnert an ein Marschland, da es in der Laguna morta, wo der Salzwasseranteil gering ist und man die Gezeiten kaum bemerkt, liegt. Die Angaben über die derzeitige Einwohnerzahl schwanken zwischen 11 und 20. Zu den Hauptattraktionen zählen eine Brücke, eine Kirche und eine Basilika mit sehr beeindruckenden Mosaiken. Zu den Nebenattraktionen zählen eine weitere Brücke, ein paar archäologische Artefakte und ein kleines Museum. Tagsüber quält ein älterer Herr in der Nähe der Vaporettostation ein Akkordeon, das man zum Glück nicht sehr weit hört. Es gibt zwei Souvenirstände, ein kleines Geschäft, das hochwertige Erzeugnisse aus dem benachbarten Burano verkauft, sowie ein paar Lokale. Nach ein bis zwei Stunden hat man wirklich alles gesehen und eine Kleinigkeit gegessen. Mittlerweile kommen viele Touristen nach Torcello. Sämtliche Reiseführer raten zu einem Besuch, paradoxerweise weil es angeblich touristisch noch nicht so überrannt ist.

Für Archäologen und Kunsthistoriker ist die Insel auf jeden Fall einen Besuch wert, doch was bietet sie allen anderen? So seltsam es klingen mag, Torcello strahlt sogar tagsüber, wenn die Touristen die wenigen Sehenswürdigkeiten erkunden, eine gewisse Ruhe aus. Man wird merklich langsamer, entspannter und stiller. Am frühen Abend schließen die Basilika, die Souvenirstände sowie sämtliche Lokale. Die Touristen sind nach Venedig, Punta sabbioni oder auf ihre grauenvollen Kreuzfahrtschiffe zurückgekehrt. Die wenigen Leute, die auf der Insel arbeiten, verlassen sie ebenfalls. (Ich glaube, ich habe zwei der 11 bis 20 Einwohner aus der Ferne gesehen, aber ganz sicher bin ich mir nicht.) Im wundervollen Licht der Dämmerung hat man Torcello (fast) für sich alleine. Ab diesem Moment hat die eigentümliche Stille die ganze Insel erfaßt. Die einzigen Laute kommen von Vögeln und Insekten. Bis am nächsten Vormittag alles wieder aufsperrt und die ersten Touristen kommen, herrscht auf Torcello eine heilige Ruhe.

Auf der Insel gibt es glücklicher Weise kein Hotel und keinen Campingplatz. Der einzige Anbieter von Gästezimmern ist die Locanda Cipriani – eine wahre Institution. Sie wurde 1934 in Betrieb genommen und beherbergte seither in den wenigen Zimmern Künstler, Politiker und Königinnen. Ich hatte das Zimmer, in dem einst Ernest Hemingway wohnte. (Statt eines Fernsehers gibt es gutgefüllte Bücherregale.) Viele Leute kommen extra nur des exzellenten Essens wegen in die Locanda. Übernachtet man dort und bestellt sich rechtzeitig ein Abendessen, kann es passieren, daß man ein charmantes Restaurant mit zuvorkommendem Service ganz für sich alleine hat.

Die Ponte del diavolo verdankt ihren Namen einer Legende, derer nach der Teufel in Gestalt einer schwarzen Katze am Weihnachtsabend auf der Brücke sitzt und auf die Seelen von Kindern warten. Es ist ein sehr begehrtes Fotomotiv, weshalb ich gleich morgens loszog.

Die Kirche Santa Fosca aus dem 11. Jahrhundert ist mit ihren Rundungen und Winkeln ein sehr lohnendes Motiv. Diese Zeichnung dauerte länger als geplant. Ende Mai waren viele Schulklassen auf Exkursion. Plötzlich wurden ich und mein Zeichenbuch viel interessanter als jedes historische Monument. Ich war umringt von einer Schar entzückender Kinder, die mich und die Zeichnungen fotografierten, während ich ihnen in radebrechendem Italienisch Rede und Antwort stand.

Abends habe ich die Kirche aus einen anderen Blickwinkel und in lockererem Stil nochmals gezeichnet.

Ich finde Zeichnen an sich sehr beruhigend. Auf Torcello wurde es eine tiefenentspannende Erfahrung. Obwohl es Privathäuser wie dieses gibt, sah und hörte ich nichts. Die Einzigen, die mich manchmal beobachteten, waren die Eidechsen.

Das ist die zweite Brücke von Torcello, eine Hauptverkehrsknotenpunkt, der zwei Inseln miteinander verbindet. Ich wollte nicht wieder große grüne Flächen produzieren, daher versuchte ich hier erstmals eine Schwarz/Weiß Zeichnung in Aquarellfarbe.

Trotz strahlenden Sonnenscheins wirkt es dadurch ein wenig trist. Das könnte aber auch mit meiner Stimmung zu tun haben. Ich wußte damals schon, daß ich Torcellos Stille schmerzlich vermissen werde.

 

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