Jedes Jahr grüßt Torcello

Der Herbst ist da. Woran man das erkennt? Weil ich nach Venedig bzw. nach Torcello fahre. Das mache ich mittlerweile jedes Jahr, aber heuer war alles ganz anders. Es begann damit, dass ich erstmals nicht fuhr, sondern flog. Wiederholt habe ich davon geschwärmt, wie praktisch Nachtzüge sind. Das sind sie jedoch nur solange die Züge ausreichend Wagons haben. Die Österreichische Bundesbahn ist ungleich erfinderisch im Vergraulen ihrer Fahrgäste.  Diesen Sommer hat sie sich jedoch selbst übertroffen. Massenweise berichteten Leute, dass sie statt ihres gebuchten Schlafwagenabteils beim Einsteigen einen Zugbegleiter vorfanden, der ihnen mitteilte: "Leider ist der Wagon, in dem sich ihr Abteil befindet heute nicht vorhanden. Aber Sie können sich gerne in einem der anderen ausgebuchten Wagons einen Stehplatz suchen und dort die 14stündige Fahrt genießen. Die ÖBB bedauert die Unannehmlichkeiten, doch sollten Sie einen Stapel Formulare ausfüllen, bekommen Sie die Differenz des bereits bezahlten Betrags irgendwann einmal sogar rückerstattet."

Da ich auf diese Erfahrung verzichte wollte, stieg ich in das billigere Flugzeug ein. Ein Flug nach Venedig hat viele Nachteile, aber auch Vorteile. Der größte ist sicher der Anflug.

Die Maschine fliegt (etwas umständlich) über das Meer bis Chioggia und von dort zurück entlang des Festlandes zum Flughafen. Das eröffnet einem einen beeindruckenden Blick auf die Lagune und Venedig.

Außerdem punktet der gut ausgestattete Flughafen mit einer Terrasse, von der man sowohl auf die Skyline Venedigs aus auch auf die nahegelegenen Inseln Burano und Torcello sehen kann.

Sehen kann man sie, erreichen kann man sie nur unter Schwierigkeiten. Der Flughafen ist wahrscheinlich deshalb recht nett, weil man ihn so schwer verlassen kann. Daheim hatte ich versucht eine Fahrroute auszutüfteln. Mit dem Bus nach Venedig, dort mit dem Vaporetto zum ersten Umstieg, dann nach Burano zum zweiten Umstieg, oder mit einer anderen Linien nach Murano, dort 15 Minuten Gehweg zur nächsten Linie, um in Burano erneut umzusteigen, etc. Nach einem halben Tag hatte ich entnervt aufgegeben und ein Wassertaxi bestellt. Urlaub ist Lebenszeit, von der ich nicht 2,5 Stunde mit Rumfahren, Umsteigen und Kofferschleppen verbringen will. Die Flugstrecke über Chioggia empfand ich bereits als Umweg, doch das war nichts im Vergleich zur Bootsfahrt vom Flughafen nach Torcello. Ungefähr 4,5 km Wasser trennen die beiden. Wie lange kann so eine Fahrt demnach dauern? Lange. Das Boot muss zunächst in die Gegenrichtung nach Murano, durch den Canal Grande di Murano, dann wieder Richtung Norden durch die Wasserstraße, die Mazzorbo von Mazzorbetto trennt, bis hinauf nach Torcello fahren, was die Wegstrecke um das Dreifache verlängert. Diese Tour ist keine Touristenfalle, sondern der einzig erlaubte Fahrweg. Bei Schönwetter und ruhiger See ein wunderbares Erlebnis. Beweisfotos für diese Behauptung habe ich keine, weil ich – ach, was bin ich stolz auf mich – den Fotoapparat daheim ließ. Nein, ich hab nicht vergessen ihn einzupacken. Es war eine ganz bewusste Entscheidung, lediglich die Malsachen mitzunehmen. Gelegentlich habe ich es bereut. Seit Jahren komme ich nach Torcello und wohne seit meinem zweiten Besuch stets im selben Privathaus. Trotzdem gelingt es dem Ort immer wieder mich zu überraschen. Diesmal mit einer Großfamilie von Fasanen, die morgens wie abends durch den Garten spazierten. Fasane habe ich auch daheim, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Ich habe noch nie zuvor so große, dicke Exemplare gesehen. Von der Ferne sahen sie aus wie kleine Stegosauria.

Mittags beobachtete ich Eidechsen, abends Fasanen, dazwischen ging ich Sketchen. Es war wieder ein sehr entspannter Urlaub. Neu hingegen waren die Hochzeiten. Torcello ist eine beliebte Location dafür, aber drei in einer Woche war außergewöhnlich viel Trubel. Wobei eine könnte ein Kunstprojekt im Rahmen der Biennale gewesen sein. Die Feierlichkeiten fanden nicht wie sonst üblich in einem der beiden Lokale in der Nähe der Kirche, sondern in einem Privatdomizil am südlichen Ende der Insel statt. Um von der Kirche dorthin zu gelangen, muss man einen Großteil des Gartens umrunden, der zu dem Haus gehört, in dem ich immer wohne. Abgesehen von einem gut gepflasterten Kai gibt es auf Torcello schmale Kieswege, die in Trampelpfaden münden, die in der wildwuchernden Botanik enden. An dieser Hochzeit nahmen an die dreihundert Leute teil, die allesamt in Cutaways und bodenlangen Abendroben gekleidet waren. Es erinnerte an Downton Abbey, nur dass diese nie enden wollende Prozession von Hochzeitsgäste in ihrer noblen Gewandung im Gänsemarsch durch unwirtliches Marschland Richtung Süden zog. Das wirkte derart bizarr, dass man es in der Tat für eine Kunstinstallation hätte halten können.

Endlich, nach all den Besuchen in Italien, durfte ich einen Streik miterleben. Dazu muss ich erklären, dass ein Streik für mich etwas Exotisches darstellt, da Derartiges in Österreich nicht existiert. Dieses Land hat absolut keine Streikkultur, ganz im Gegensatz zu Italien, wo am Freitag der öffentliche Verkehr lahmlag. Ich beeilte mich, um rechtzeitig von Venedig nach Torcello zurückzukommen, damit ich dort die Ruhe eines touristenfreien Nachmittags genießen könne. Es kamen allerdings nicht viel weniger als sonst. Die italienischen Streiks sind auch nicht mehr, was sie mal waren!

Die Touristen werden übrigens immer seltsamer. Ja, ich bin mir der Problematik meiner Aussage bewusst, weil ich ebenfalls ein Tourist bin, allerdings hoffentlich nicht einer von der Sorte, der lautstark erklärt, dass es auf Torcello Sehenswürdigkeiten gibt, die sich eigentlich in Rom befinden. Sprachlos war ich jedoch erst, als ein älterer Herr aus den USA wie selbstverständlich eine Gartentür, neben der "Privatbesitz" geschrieben stand, öffnete und eintrat, um Haus und Garten zu fotografieren sowie sich danach über Restriktionen, wie einen Gartenzaun per se zu beschweren, weil bei seinem letzten Besuch auf der Insel alles frei zugänglich war. Und das von jemanden, der aus einem Land kommt, wo man je nach Bundesstaat für unbefugtes Betreten erschossen werden kann! Dagegen war das Paar aus Bayern, das vor drei Jahren im Garten meines Feriendomizils picknicken wollte, richtig harmlos. Terry Pratchett hat geschrieben: "Tourist" bedeutet "Idiot". Dem lässt sich mittlerweile kaum mehr widersprechen.

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