Schönheitspreis gewinnt Marseille sicher keinen. Es besticht mehr mit Facettenreichtum. Alle paar Schritte ändert die Stadt ihr Gesicht. Gerade noch zwischen Gründerzeithäuser mit kunstvollen Schmiedeeisengittern über einen an Paris erinnernden Boulevard flanierend, erwartet einen hinter der nächsten Biegung eine dunkle Gasse gesäumt von graffitibeschmierten Fassaden, die aufgelassene oder heruntergekommene Geschäfte verbergen. Unwillkürlich beschleunigt man seinen Schritt, um diese Gegend, von der man sich gar nicht vorstellen möchte, sie nach Einbruch der Dunkelheit betreten zu müssen, so rasch wie möglich zu verlassen, aber nach ein paar Metern eröffnet sich ein freundlicher Platz, auf dem die Leute gemütlich in Cafégärten sitzen. Es ist dieses ständige Nebeneinander von Gegensätzlichkeit, das Marseille derart faszinierend macht. Immer ist es anders als erwartet. Es bedurfte drei Besuche, damit ich endlich die wenigen Konstanten, auf die man sich hier verlassen kann, ausmachen konnte.
Nahezu jede Straße führt einen Berg hinauf oder endet an einer steilen Treppe. Marseille ist ein Trainingslager für Extrembergsteiger! Diese Stadt muss im Süden liegen, weil bei Schnee die Bewohner nur mit Eispickel, Steigeisen sowie Kletterseil weiterkämen. Etliche Sehenswürdigkeiten liegen entweder an einem Berghang oder auf einem Hochplateau. Die dazugehörigen Haltestellen des öffentlichen Verkehrs haben hinterhältige Sadisten meist am Fuße des Berges errichtet. Der besichtigungswillige Tourist muss hinaufklettern und zum Wegfahren wieder hinunterklettern. Aus lauter Erschöpfung habe ich begonnen die Benutzung der Verkehrsmittel dahingehen zu planen, dass ich mir zumindest eine Bergtour erspare: Also bspw. hin mit der Metro und weg mit der Straßenbahn.
Marseilles Zentrum ist nach wie vor der Hafen, der alte Hafen wohlgemerkt. Der, an dem die wirklich großen Schiffe anlegen, ist weit draußen. Wer sich allerdings an den alten Hafen setzt, wird innerhalb ein paar Minuten ziemlich sicher Menschen aus 5 Kontinenten vorbeigehen sehen. Dort ist also immer was los und wenn ich schreibe "immer", dann meine ich das auch so. Nicht New York, Marseille ist die Stadt, die niemals schläft. Deshalb ist es nie ruhig. Ja, der Verkehrslärm wird mit fortschreitender Nacht geringer, aber das fällt kaum auf, wenn Jugendliche um 3:15 morgens zu dem wummernden Gedröhne ihrer Soundmachine grölend die Hafenkante entlang tanzen. Hätte sich das nicht in unmittelbarer Nähe meines Hotels abgespielt, wäre es eigentlich bewundernswert gewesen, weil nicht einmal in jungen Jahren hätte ich um diese Uhrzeit für derlei die Energie aufgebracht.
Falls es so etwas wie Verkehrsregeln gibt, dienen sie lediglich dazu ignoriert zu werden. Keine Straße ist zu schmal, keine Kurve zu eng, um nicht befahren zu werden. Zu den waghalsigen Manövern der Autofahrer gesellen sich motorisierte Zweiräder, Fahrräder und Scooter, die den Gehweg mit einer für Fußgänger bedrohlichen Selbstverständlichkeit für sich beanspruchen. Wirklich erstaunlich, dass es nicht jeden Vormittag mindestens 50 Verkehrstote gibt.
Das alles tut der Faszination von Marseille keinen Abbruch. In kaum einer anderen Großstadt gibt es so viele Möglichkeiten eine überwältigende Aussicht zu genießen. Mit dem Palais Longchamps befindet sich der wahrscheinlich prachtvollste Wasserverteiler der Welt hier und von den ständigen Kletterpartien bietet die Corniche Kennedy einzigartige Erholung. Die (ebene) Straße führt 3 Kilometer die Küste entlang. Neben Lokalen und Sitzgelegenheiten gibt es etliche Zugänge zu Stränden oder Buchten. Die Marseiller haben das Privileg mit dem öffentlichen Bus direkt zum Baden an Meer gebracht zu werden. Das Wasser ist für Warmduscher wie mich zu kalt, aber glasklar. Dort lässt sich’s wirklich aushalten. Der Blick übers Mittelmer zeigt die Frioul-Inseln inklusive der Île d’If.
Vermutlich würden nur wenige Leute das Château d’If besuchen, hätte Alexandre Dumas ihm nicht seinen berühmtesten Gefangenen geschaffen. Dankenswerter Weise haben die Verantwortlichen darauf verzichtet diesen Umstand so rücksichtslos auszuschlachten, wie etwa Verona mit seinem Balkon der Julia. Abgesehen von einer kleinen Ausstellung über den Grafen von Monte Christo wurde für Edmond Dantes eine eigene Zelle inklusivem Durchbruch zu der von Abbé Faria geschaffen. (Zweifel an der eigenen geistigen Gesundheit kommen auf, wenn man bedenkt, dass man tausende Kilometer gereist ist, um ein Loch zu fotografieren, durch das zwei fiktive Gestalten gekrochen sind.) Ansonsten wird mehr Wert drauf gelegt, den Besucher die tatsächliche Geschichte des Gefängnisses näher zu bringen. Obwohl die nicht sehr große Anlage fast die komplette Insel einnimmt, erlaubt sie mit Bänken, Liegestühlen und sogar einem kleinen Café die Möglichkeit in aller Ruhe die Eindrücke inklusive der atemberaubenden Ansicht von Marseille auf sich wirken lassen kann.
Wieder bin ich nicht richtig zum Zeichnen gekommen. Gerade einmal ein sehr schneller (Wer ist früher weg, die Sonne oder ich!) Sketch von der Opéra municipal ist sich ausgegangen.
Die Wahl fiel deshalb auf dieses Gebäude, weil ohne Oper wäre ich überhaupt nie nach Marseille gekommen. Mittlerweile bin ich ein Fan des Hauses. Das Orchester ist brillant, der Chor sensationell und Solisten durchwegs exzellent – meistens jedenfalls. Nach fantastischen I puritani vor drei Jahren und zwei höchst gelungenen Aufführungen von Don Carlo im Juni war ich nun in Macbeth – glaube ich zumindest. Stellenweise war ich mir nicht sicher. Vermutlich ist es für den Gesamteindruck einer Aufführung dieser Oper kein ganz so gutes Zeichen auf die Frage, wie es einem gefallen hat, zu antworten: "Banquo, Macduff und der Chor waren großartig." Trotzdem überlege ich, ob ich nächstens Jahr nicht doch zu Les Huguenots fahren soll …