Mein Wissen über Marseille beschränkte sich auf die Lektüre von Dumas Der Graf von Monte Christo. Vielleicht erwartete mich deshalb dort bei meiner Kurzreise Anfang November eine Überraschung nach der anderen. Weniger überrascht als verwundert war ich, als ich entdeckte, daß der Flughafen der zweitgrößten Stadt Frankreichs keine Anbindung an den öffentlichen Verkehr hat. Andererseits sah ich so schon bei meiner Ankunft jede Menge Berge, aber kein Meer, was für eine Hafenstadt nun wirklich überraschend ist. Und tatsächlich sind für Marseille Bergschuhe empfehlenswerter als Schwimmflossen. Es ist keine Stadt für Leute mit motorischen Einschränkungen. Egal wohin man möchte, es geht steil bergauf, sogar auf den U-Bahn Bahnsteigen, wo es zwei Rolltreppen gibt, von denen beide nach oben und keine nach unten fährt.
Der erster optischer Eindruck war: Paris trifft Italien. Der erster akustischer Eindruck war: laut. Die Dezibel, die der Verkehr nicht aufbringt, schaffen die Baustellen. Überraschender Weise störte mich das überhaupt nicht. Ich nütze den Verkehr gleich aus und fuhr mit dem Linienbus zur Notre Dame de la Garde. Selbst von der Bushaltestelle ist der Aufstieg anstrengend. Die phänomenale Aussicht ist die Mühe allemal wert.
Am Nachmittag erkundete ich die Umgebung des alten Hafens, bis mich am frühen Abend ein unbändiger Hunger überfiel. Ich war um 3 Uhr morgens aufgestanden und hatte seit dem Frühstück am Flughafen nichts mehr gegessen. So landete ich in einem kleinen Couscous-Lokal mit dem Ambiente einer Bahnhofskantine. Ich bestellte Couscous mit Fleischbällchen und erhielt eine Schüssel Reis, einen Topf dampfendes Gemüse sowie einen Teller mit einer Hühnerkeule. Am Huhn war ich selbst schuld. Mein Französisch ist eine Beleidigung für die Sprache von Racine, Hugo und Sartre. Wenn ich "avec boulettes" bestelle, kann man durchaus "avec poulet" verstehen. Jedenfalls dürfte ich ein besonders verdattertes Gesicht gemacht haben. Beim Bezahlen fragte mich der Kellner zaghaft, ob es mir geschmeckt hätte. Wider Erwarten war es absolut köstlich.
Am nächsten Tag erklomm ich das Quartier du Panier, wo Marseille seinen Anfang nahm. Die ersten Häuserreihen versprühten statt des Charmes des Ursprünglichen den Alptraum der Plattenbauarchitektur. 1943 sprengten die deutschen Besatzer einige Straßenzüge. Um das echte Viertel zu entdecken, muß man tiefer hinein oder besser gesagt höher hinaus. Enge Gässchen (Die tatsächlich in beiden Richtungen für den Autoverkehr geöffnet sind!), steile Treppen, kleine Bistros, urige Geschäfte und Graffiti (von Vandalismus bis zu richtigen Kunstwerken) übten eine magische Anziehungskraft aus. Hätten nicht Unwetter und Sturm eingesetzt, ich wäre den ganzen Tag durchs Panier flaniert bzw. geklettert.
Die größte Überraschung erwartete mich jedoch in der Oper. Von außen machte sie einen hübschen Eindruck, innen würde ihr eine gründliche Überholung guttun. Doch wer geht schon in die Oper, um sich das Gebäude anzusehen. (Ja, ich habe das in Oslo einmal gemacht, aber das ist eine andere, sehr traurige Geschichte.) Nach all den Jahren, die ich sowohl im Publikum als auch im Ensemble von Theatern und Opernhäusern verbracht habe, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß es drei Kategorien von Aufführungen gibt.
- Die meisten sind insgesamt in Ordnung und ein oder zwei Aspekte bzw. Mitwirkende sind auffallend gut.
- Manche Darbietungen sind in ihrer Gesamtheit katastrophal. (Der Besuch in der Osloer Oper fällt darunter.)
- Einige Vorstellungen sind perfekt. Das sind dann die ganz großen Momente im Theater, die man nie vergißt.
1994 gab es an der Wiener Staatsoper eine Premierenserie von Bellinis I puritani mit Edita Gruberova, Marcello Giordani, Dmitri Hvorostovsky und Roberto Scandiuzzi in einer Inszenierung von John Dew. Diese Vorstellungen gehören mit zum Besten, was ich je auf einer Bühne erleben durfte. Ein Vierteljahrhundert später saß ich in einer konzertanten Aufführung desselben Werks in Marseille und war fast so beeindruckt wie vor 25 Jahren.
Die zwei Tage in Marseille waren verblüffend. Irgendwann werden wieder Flugzeuge fliegen (Noch lieber wäre mir eine vernünftige Zugverbindung.), in den Theatern und Opern wird wieder gespielt werden und ich werde wieder nach Marseille fahren. Dort warten sicher noch viele Überraschungen auf mich.