Als ich 2019 der Oper wegen erstmals nach Marseille fuhr, hatte ich nur eine vage Vorstellung von der Stadt. Heuer brachte mich die Oper zum ersten Mal nach Toulouse, eine Stadt, von der ich noch weniger wusste. Umfassende Recherchen warfen als erstes die Frage auf: Warum wird die europäische Hauptstadt der Luft- und Raumfahrt von Wien aus nicht direkt angeflogen? (Umsteigen in Frankfurt ist ja sooooo empfehlenswert.) Die zweite Frage lautete: Was werde ich vier Tage dort machen? Die beiden führenden Museen erleben gerade einen mehrjährigen Umbau. Die restlichen Besichtigungsempfehlungen beschränkten sich auf eine Kirche, ein Kloster, das Capitole (Rathaus), eine Fahrt auf dem Canal du Midi, der Toulouse mit dem Mittelmeer verbindet, sowie Spaziergänge durch die zahlreichen Parks. Ich sah mich schon am Flussufer oder auf einer Bank in einem dieser Parks sitzen und darauf warten, dass die Opernaufführungen begannen. Wie immer war dann alles ganz anders.
Toulouse ist wunderschön! Die zumeist schmalen, verwinkelten Straßen werden von Häusern mit Ziegelfassaden, bunten Fensterläden und gusseisernen Gittern gesäumt, was dem Zentrum eine eigene Harmonie verleiht. Unzählige kleine Restaurants und Cafés zwingen einen geradezu sich eine Pause zu gönnen. Das kulinarische Angebot ist weltumspannend und vorzüglich. Statt der obligatorischen Handelsketten oder Ramschgeschäfte gibt es allerhand Boutiquen und entzückende Läden. Obwohl kaum Fußgängerzonen vorhanden sind, herrscht nur wenig Verkehrslärm, was das Flanieren allerdings abenteuerlich gestaltet, denn ausgewiesene Gehwege fehlen. Zumindest konnte ich keine erkennen. Toulouse wirkt wie eine allumfassende Begegnungszone. Fast alles ist zu Fuß erreichbar, was eigentlich schade ist, denn das exzellente Verkehrsnetz inkludiert selbstfahrende U-Bahnen und angenehm klimatisierte Busse. (Angeblich gibt es auch Straßenbahnen, aber ich habe nicht einmal Gleise dafür gesehen.) Egal, wohin man geht, man kommt immer wieder ins Herz der Stadt, dem Place du Capitole, dessen gesamte Ostseite vom Capitole eingenommen wird. Der oft gelesene Hinweis, man möge dort den Salle des Illustres besuchen, ist eine drastische Vereinfachung all dessen, was einem die Innenausstattung des Rathauses tatsächlich bietet. Bereits der Treppenaufgang ist überwältigend. Und es gibt nicht nur einen Saal mit Gemälden und Skulpturen, sondern mehrere. In einem hängen Werke von Henri Martin, der fast so etwas wie ein mehrteiliges Panoramabild von Toulouse geschaffen hat. Am besten verarbeitet man diese Eindrücke an der Westseite, wo unter den Arkaden traditionelle Cafés eine umfassende Aussicht auf den Platz erlauben.
Weniger spektakulär empfand ich die zweite Hauptattraktion, den Canal du Midi. Wohlgemerkt die bauliche Errungenschaft steht hier nicht zur Diskussion, eher die einstündige Bootsfahrt, die zwar durch die Stadt führt, auf der man aber nur Grün sieht. Der Kanal ist jedoch derart bedeutend, dass er wie das Capitole häufig auf den Straßen zu sehen ist.
In Toulouse sind sogar die Kanaldeckel schön!
Eigentlich verläuft hier ein viel imposanteren Wasserweg. Die Garonne teilt die Stadt, wobei das Zentrum am rechten Ufer liegt. Die bekannte Postkartenansicht mit der Kuppel des Hôpital de La Grave und dem Turm von Saint-Nicolas stehen jedoch auf dem linken Ufer.
Die berühmteste Kirche ist die Basilika Saint-Sernin (auch wieder auf der rechten Seite). Ein imposanter romanischer Bau mit einer zugänglichen Krypta und einer Reliquiensammlung, die sehr – nennen wir es – mittelalterlich ist, d. h. sie besitzt keinen religiösen aber dafür einen Unterhaltungswert. Ganz im Gegensatz zur Kirche des Jakobinerklosters. Dort liegen die Gebeine eines der führenden Misogynen: Thomas von Aquin. Einen Besuch ist die Anlage dennoch wert. Während eines geruhsamen Verweilens im Kreuzgang, kann man darüber meditieren, warum es Jakobinerkloster heißt, wo es in Wahrheit den Dominikanern gehört. (Des Rätsels Lösung findet sich unter anderem hier.) Wem das zu kontemplativ ist, der besucht die gerade stattfindende Wechselausstellung. Ich hatte das Glück La Fabrique de l’Opéra du Capitole, eine Ausstellung über die Werkstätten des Opernhauses zu sehen. Eine gelungene Einstimmung für den Abend.
Die Opéra national du Capitole de Toulouse befindet sich im rechten Seitenflügel des Capitoles und wenn man es nicht weiß, geht man sicher daran vorbei. Das ist ganz schlecht, man muss unbedingt hinein gehen. Nicht, weil die Innendekoration so sehenswert ist, sondern weil dort der vermutlich himmlischste Opernchor der Welt singt. Zugegeben, ich habe nicht alle Opernchöre der Welt gehört, doch bis zu meinem Besuch von Boitos Mefistofele hatte ich nicht einmal geahnt, dass ein Chor so überragend sein kann. Entweder werden dort alle Mitglieder zuvor einem rigorosen Auswahlverfahren unterzogen, das nur die Besten der Besten zulässt, oder der Chorleiter Gabriel Bourgoin ist ein Genie – vermutlich trifft beides zu. Abgesehen von dieser akustischen Sensation, waren die Aufführungen musikalisch insgesamt exzellent. Schon alleine dafür hatte sich die Reise gelohnt.
Selten habe ich eine Rückkehr so bedauert. Nicht nur, weil ich am Freitag ein drittes Mal hätte in die Oper gehen können, sondern weil Toulouse zu schön ist um wegzufahren. Darüber hinaus hatte ich nie Zeit, mich wenigstens in einen der vielgerühmten Parks zu setzen.